Lektüren

Hier stelle ich eine Reihe von Lektüren vor: Bücher und Texte, die ich jüngst gelesen habe und von denen ich möchte, dass andere diese ebenfalls lesen. Mein Augenmerk liegt dabei vor allem auf Texte der sog. Nackriegszeit, also Bücher aus den Jahren 1945 bis ca. Mitte der 60ger Jahre des letzten Jahrhunderts. Aber auch Romane aus den 30ger Jahren interssieren mich, wie z. B. Am Rande der Nacht von Friedo Lampe, dem bedeutendsten Bremer Romanautor des 20. Jahrhunderts.

Am Rande der Nacht von Friedo Lampe

Der Roman wurde von Frido Lampe Anfang der Dreißiger Jahre geschrieben und 1933 im Oktober veröffentlicht. Er kam schon nach kurzer Zeit (Dezember) auf den Index und wurde aus dem Verkehr gezogen. Den Zensoren der Nazis gefiel nicht das Vorkommen eines „Negers“ sowie Andeutungen von Homosexualität.

Am Rande der Nacht spielt in Bremen. Man kann die Bewegungen der Figuren durch die Stadt topografisch nachvollziehen mit Unterstützung eines alten Stadtplans und ein bisschen Hilfe von google. Es wird nicht eine Geschichte erzählt, sondern mehrere in einer Art Paralellmontage. Lampe verwendet eine besondere Erzähltechnik: eine Art suchende Kamera durchstreift diese eine Nacht, in der die Geschehnisse sich ereignen, nimmt mal da, dann dort das Geschehen auf, kehrt wieder zum ersten Geschehen zurück und so fort. Wir erhaschen Bruchstücke von Geschichten dieser einen Nacht, die zu einem poetischen Teppich verwebt wird.

Die verschiedenen Geschichten überkreuzen sich teilweise. Vieles wird nur angedeutet. Ich greife zwei der Geschichten heraus, die mich besonders beeindruckt haben: einmal gibt es da einen jungen Stewart auf einem Schiff, das im Hafen liegt und noch diese Nacht nach Amsterdam auslaufen wird. Der junge Stewart scheint einmal Student gewesen zu sein, bevor er Stewart wurde. Er wird von dem sadistischen Kapitän gedemütigt. Und dieser Vorgang scheint unterschwellige sexuelle Dimensionen zu haben. Von einem Ex-Kommilitonen, der auf dem Schiff als Passagier einscheckt, gefragt, warum er sich das bieten lasse, antwortet er nur: er könne eben nicht anders. Den Ratschlag, das Schiff zu verlassen und sich einen anderen Job zu suchen, will er prüfen. Doch am Ende bleibt er auf dem Schiff. Der Leser bleibt rat- und hilflos zurück. Ist es bloß die Angst vor Arbeitslosigkeit, die ihn hält? Eine zweite, zu Herzen gehende Geschichte, handelt von einem Magier und Hynotiseur. Eigentlich nicht von ihm, sondern von der Hauptattraktion seines Auftritts: seinem kleinen Sohn, den er ganz offensichtlich für seinen Erfolg ausbeutet. Diese Geschichte ist wirklich traurig. Auch der kleine Junge und sein kleiner Hund können sich aus den Fängen der Übermacht des Vaters nicht befreien. Auch hier gibt es eine weitere Person, die helfen möchte und die auch hier scheitert.

Der Roman ist sehr poetisch. Erinnert an Filme aus jener Zeit von Carné oder Renoir und anderen. Es ist ein poetischer Realismus. Dieses Buch ist unbedingt zu empfehlen.

Das Werk von Friedo Lampe ist nicht sehr groß. Das dritte Reich hat ihm die Möglichkeit genommen, mehr zu schreiben. Friedo Lampe starb beinahe wie eine seiner Figuren. Am Ende des Krieges lebte er in der Nähe von Berlin. Auf dem Weg zu einer Freundin wird er von russischen Soldaten für einen Nazi gehalten. Man erschießt ihn kurzerhand. Aus.

Unversöhnt

Der Roman von Heinrich Böll Billiard um halb zehn erschien 1959. Er war bis zu der Zeit sein anspruchsvollster und ambitioniertester Roman – und er hat, denke ich, auch keinen Roman danach geschrieben, der es mit diesem Werk aufnehmen kann.

Billiard um halb zehn wurde unter dem Titel „Unversöhnt“ in den 60ger Jahren verfilmt. Ich habe den Film nicht gesehen, meine aber, dass der Titel des Films das Thema des Romans wirklich trifft. Die Geschichte dreier Generationen, wobei die beiden ersten im Zentrum stehen. Der eine baut auf, sein Sohn reißt nieder. Beide Generationen sind im Nazi-Deutschland Opfer und im Nackriegsdeutschland unversöhnt. Insbesondere die Mutter der ersten Generation, die viele Jahre das Sprechen verweigert, will sich nicht mit dem neuen, vom Wirtschaftswunder geblendeten Deutschland aussöhnen. Am Ende geht eine Bombe hoch. Niemand wird verletzt, aber es kommt auf das Zeichen an. Böll hat sich auch nicht mit dem Nackhkriegsdeutschland arrangiert, blieb kritisch und unversöhnt bis zuletzt.

Der Roman ist im Gegensatz zu seinen anderen Werken nicht leicht zu lesen, wechselnde Perspektiven mit inneren Monologen machen die Orientierung schwer, zumal es immer wieder in die Vergangenheit geht und die Geschichten sich erst nach und nach zusammensetzen. Sprachlich-stilistisch ist es nicht mehr die sachlich-nüchterne Nachkriegsprosa. Die Syntax ist komplexer. Es werden nun Leitmotive und Metaphern verwendet.

Für mich der beste Roman von Böll. Er steht rangmäßig neben den beiden satirischen Erzählungen „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ und „Dr. Murkes gesammeltes Schweigen“.